Fotos: Martina Strilic
Rede von Adrienne Braun, Kunstkritikerin Stuttgart
Guten Abend, sehr geehrte Damen und Herren, ich darf Sie herzlich begrüßen und freue mich, dass ich heute Abend hier sein darf. Bloß: Bin ich schon da – oder bin ich noch da? Und sind Sie gerade angekommen oder geistig schon wieder auf dem Absprung? Das ist doch einerlei, mögen Sie denken, Hauptsache wir sind hier, in der Gegenwart, verortet im Hier und Jetzt.
Wir neigen dazu, Dinge zu kategorisieren, Anfang und Ende zu benennen. Auf den ersten Blick erscheint das unproblematisch, ja simpel und naturgegeben. Im Detail aber erweist sich die Realität als komplexer, bei kritischer Überprüfung und geleitet von skeptischem Denken können verlässliche Rahmendaten verfließen, sich verflüchtigen.
Warum sage ich das: Weil wir es heute mit Kunst zu tun haben, die sich mit dem Moment des Überganges befassen. Transition nennt man das heute auch gern, ob es in der Medizin ist, bei politischen Prozessen, bei der Umwandlung von Stadtteilen, etwa beim Rückbau der amerikanischen Kasernenstädte hier in Deutschland. Stirb und Werde hätte man früher gesagt, Wandel.
Birgit Brandis ist – und hier komme ich schon ins Straucheln und an die Grenzen meines kunsthistorischen Schubladendenkens. Denn sie ist nicht einfach Malerin oder Fotografin. Birgit Brandis macht Gemälde, Holzschnitte, Fotografien.
Die Ausstellung verrät auf den ersten Blick ein extrem heterogenes Werk, im Katalog stellt man sogar eine noch größere Spannbreite des Oeuvres fest: Birgit Brandis hat zum Beispiel den entkernten Speicher fotografiert, über den die Elbphilharmonie gebaut wird, Gebäude, die nicht mehr genutzt werden, eine Zwischenzone, Architektur in einem Transformationsprozess.
Es finden sich in dem Werk handliche und gewaltige Formate, gegenständliche Motive, aber auch geometrische Formen, Strukturen und Raster. Grafisches und Malerisches taucht auf. Wir haben es mit schwarz-weißen als auch vielfarbigen Kompositionen zu tun, streng systematisch Geordnetem und gänzlich freien, formlosen Farbverläufen. Hier sind die Motive klassisch ins Bildzentrum gerückt, dort scheinen die Strukturen jenseits des Rahmens fortgesetzt zu werden.
Birgit Brandis zeichnet, malt, druckt – und das oftmals im Verbund. Sie druckt keineswegs nur mit Holzstücken, sondern arbeitet auch gern mit Styrodor, einem billigen Isoliermaterial aus dem Baumarkt, in das leicht und schnell geschnitten werden kann. Bei ihren sogenannten „Wachskratzereien“ trägt sie zunächst mehrere Lagen Ölkreide auf und schneidet dann mit der Rasierklinge in diese Schichten hinein.
Eine ist zumindest sicher: Birgit Brandis experimentiert. Sie arbeitet zum Beispiel gern mit einem Gummipümpel, einer Klistierspritze, mit der sie die Farbe spritzen kann – und sofort in eine noch feuchte Grundierung die nächste Farbe aufspritzen kann, so dass die Farbmassen ineinander fließen, sich hier verbünden, dort abstoßen und eigenwillige, raffinierte, komplexe, kaum fassbare Farbverläufe von ungeheurem sinnlichen Reiz entstehen.
Birgit Brandis definiert Regeln und klebt etwa ein gleichmäßiges Raster aus Tesafilm auf die Fläche und malt darüber. Dann zieht sie den Tesafilm ab, versetzt das Raster und legt die nächste Schicht aufs Bild. Alles in schönster Ordnung, alles unter Kontrolle – und doch kommt sie immer an den Punkt, wo ihr die Kontrolle entgleitet, wo das Material beginnt, ein Eigenleben zu führen, die Farbe anders fließt, als gedacht.
Sie trägt rote Farbe auf, ergänzt auf der Fläche mit dem Pümpel eine zarte Zeichnung und bewegt das Bild, so dass es sich selbst weiterentwickelt, schließlich lassen sich die Reaktionen der Farbmassen nur bedingt steuern.
Ich stelle mir das Atelier von Birgit Brandis als eine Art Hexenküche vor, wo ständig irgendwas gemacht, gemischelt, experimentiert wird, Dinge zusammenkommen, die nicht zusammengehören, Techniken zweckentfremdet werden, sich nicht alles so verhält, wie es an den Akademien einst gelehrt wurde oder wie es auf dem Waschzettel der Künstlerutensilien und Baumarktprodukte beschrieben ist. Sie faltet Schmirgelpapier, arbeitet damit – und schafft ein Raster mit unterschiedlichsten Oberflächenstrukturen. Sie schmirgelt ihre eigenen Zeichnungen weg, und es kann sogar sein, dass ein Fleck, ein Stäubchen, ein Partikel auf dem Druckstock die künstlerische Arbeit beeinlusst.
Kunst als Forschungsprojekt. Aber es geht Birgit Brandis nicht allein um das Erproben der technischen Mittel, ihre künstlerische Tätigkeit ist keine Leistungsschau, bei der sie die handwerklichen Fertigkeiten ausreizen und auf die Spitze treiben will, nach dem Motto: Seht geht, wie virtuos ich Materie und Methoden beherrsche.
Birgit Brandis ist keine Wissenschaftlerin. Es geht ihr nie allein um die physikalischen und chemischen Reaktionen, diese Forschung ist kein schierer Selbstzweck. Denn so unterschiedlich ihre Versuchsanordnungen sein mögen, haben wir es doch immer mit Transitionen zu tun, mit Übergängen: zwischen Malerei und Druck, auch zwischen Malerei und Relief. Zwischen Geformtem und Ungeformtem. Und vor allem zwischen Kontrolle und Kontrollverlust.
Sagen Sie mir nun: Wo ist die Grenze, zwischen dem, was Birgit Brandis initiiert hat und steuert – und wann übernimmt der Zufall das Regiment? Welchen Anteil hat die Künstlerin an den gänzlich ungeformten Farbmassen? Gibt es einen fixen Moment, an dem die Kontrolle endet? Und falls ja: Wo exakt ist die Schnittstelle?
Damit stoßen die Arbeiten von Birgit Brandis philosophische Fragen an und weitet sich der Horizont hin zu intellektuellen Gedankenspielen, und wird uns als Betrachtern vor Augen geführt, dass unsere vertrauten Kategorien und Sicherheiten obsolet sind. Sie leiten uns an, geistig weiterzugehen, und neue, vielleicht auch unbequeme, abstrakte Denkmodelle abzuklopfen. Denn es ist ja offenkundig, dass Gesteuertes und Zufälliges nicht vollständig isoliert voneinander existieren, sondern sich verzahnen. Auch im freien, unkontrollierten Farbverlauf ist die Handschrift der Künstlerin immanent. Sie mag die Kontrolle abgeben, aber im Ungeordneten ist die ordnende Hand der Künstlerin präsent, gegenwärtig.
Noch einmal: Birgit Brandis beginnt mit einer Versuchsanordnung, mit einem Rahmen, den sie absteckt. Im Verlauf des Prozesses aber lässt sie die Leinen los und beginnt das Bild ein Eigenleben zu führen. Es wird zum Gegenüber, zu einem selbst agierenden Etwas, mit dem die Künstlerin sich arrangieren muss, das sie mal bekämpft, das sich mal in absolutem Gleichklang mit ihren Intensionen entwickelt.
Damit werden die Arbeiten von Birgit Brandis zu Chiffren für das Leben an sich. Der künstlerische Prozess spiegelt den ewigen Versuch, feste Strukturen zu schaffen, Verlässliches zu etablieren, in eine Richtung zu gehen. Und doch führt uns, ja was, das Schicksal? Das Leben? eine unsichtbare Gewalt immer wieder auf andere Pfade. Ständig werden wir gezwungen, unseren Weg zu korrigieren, uns neu auszurichten. Permanent ringen und rangeln wir mit diesem Gegenüber, versuchen das Zufällige in unser System zu integrieren.
So führen uns die Arbeiten von Birgit Brandis viel mehr vor Augen als nur ein handwerkliches Spiel zwischen Ordnung und Anarchie, zwischen Gegenstand und Abstraktion, Komposition und Chaos. Sondern sie machen auf immer andere Weise sichtbar, wie das Kalkulierbare und das Unwägbare zusammenspielen, wie wir Akteur sind und bestimmt werden von einem diffusen Gegenüber.
Im Rückschluss heißt das auch, dass die ordnende Hand des vernunftbegabten Menschen immer wieder an Grenzen stößt, auch wenn er das in seiner Hybris nicht immer wahrhaben will und in seinem Glauben ans Machbare die Macht dieses Gegenübers allzu gern unterschätzt.
Obwohl die Arbeiten von Birgit Brandis eine enorme sinnliche Wirkung besitzen, obwohl sie eine ganz eigene Schönheit und ästhetische Kraft entwickeln, sind sie extrem intellektuell und reflektieren die Grenze zwischen Kontrolle und Kontrollverlust, zwischen Ordnung und Störung. Um den Abstraktionsgrad noch zu erhöhen, erfolgt die Recherche aber nicht nur horizontal. Es geht nicht nur darum, quasi auf einem linearen Zeitstrahl festzumachen, wann das eine endet, das andere beginnt. Sondern indem Birgit Brandis mitunter zahllose Ölkreide- oder Acrylfarbschichten übereinander legt, erweitert sie ihr Denkmodell auch in die Vertikale.
Die Schichten, in die sie hinein schneidet, erinnern an Sedimentschichten in der Erde, die durch die scharfen Schnitten wieder sichtbar gemacht werden, freigelegt werden. Denn unter allem lauert ein Darunterliegendes.
So gelingt Birgit Brandis das, was Kunst idealiter vermag: mit Hilfe der malerischen Mittel etwas anderes, Größeres begreiflich zu machen, existenzielle Fragen zu paraphrasieren, sie wie durch ein Brennglas zu betrachten und zu analysieren. Bei Birgit Brandis’ Arbeiten wird man auf nicht weniger als die kaum fassbare Komplexität der menschlichen Existenz an sich gestoßen.
Diese komplexen Zusammenhänge nachzuvollziehen, ist anspruchsvoll, so, wie es uns als Betrachter kaum möglich ist, die malerischen und zeichnerischen Experimente von Birgit Brandis zu erfassen, zu entschlüsseln, wo die eine Farbe in die andere übergeht, wo eine Struktur endet und eine andere beginnt. Panda rhei, alles fließt.
Deshalb möchte ich Sie jetzt einladen, einerlei, ob Sie schon hier sind oder noch, sich nun in diese Zwischenzone zu begeben, in dieses durchaus geheimnisvolle, aber auch aufregende Dazwischen zu blicken, das nicht Dies, nicht Jenes ist, aber von einer so betörenden Schönheit und Kraft, dass man sich wundert, warum wir uns allzu oft so verbissen an die klare, verlässlich, simple, schnöde Ordnung der Dinge klammern.