Schlafende Augen wecken / waking up sleeping buds

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Fotos Helge Mundt

 

Alphabet der tierischen Pflanzenlüste

Waking up sleeping buds / Schlafende Augen wecken – der verschwörerische Unterton in Birgit Brandis’ Titel zu ihrer Ausstellung in Ahrensburg, den dieser Katalog, den Sie in Händen halten, begleitet, zielt auf vergleichbare menschliche und tierische Reaktionen, ausgelöst von einem überrumpelnd plötzlichen Begehren. Wobei man sich auch fragen kann, wie verteilen sich die Rollen von aktiv und passiv, von verführend und verführt, oder verstricken solche Unterscheidungen schon in nebulöse Überheblichkeiten?

Brandis’ künstlerische Arbeiten jedenfalls stellen kategoriale Einteilungen wie Malerei, Zeichnung, Drucktechnik, Photo, gegenständlich, semi- oder gänzlich abstrakt, geometrisch oder organisch usw. auf den Kopf – einen Kopf, der keines störrischen „Dagegen“ als Movens bedarf. Von kategorischen Einteilungen der Handhabung bildnerischer Mittel löst sie sich in ihrem beflügelnden Umgang mit ebendiesen. Mittel verwandeln sich von Trägern zu Mitspielern der kreativen Phantasie. Wer sagt denn, dass Holzschnitt als Schneidetechnik in Druckstöcken für die Vervielfältigung fertiger Motive enden sollte? Man kann diese Tiefdrucktechnik auch als Werkprozess verwenden für eine – nicht mehr getrennt vom Resultat – neue Form von Malerei. Diese basiert auf Farbschichten, die – mittels Tiefenschnitten freigelegt – eine buchstäblich vielschichtige Malerei erlauben. Deren Ans-Licht-Kommen – ein Augenaufschlagen der Bilder – hält auch für die Künstlerin formale und optische Überraschungen bereit.

Eine fulminante Erfindungsgabe begleitet Birgit Brandis’ künstlerisch überraschendes Verfahren. Zufall und Planung gehen im Prozess eine delikate Verbindung ein. Das Resultat ihrer Sgraffito-Technik beansprucht Stimmigkeit. Die tiefenräumliche Ausgrabung wirkt mit im kompositorischen Wechselspiel zwischen Material, Form – und Farbe! Helligkeiten und Dunkel, Oberfläche und Tiefe vertauschen ihren Ort. Modulierende Übergänge innerhalb einer Farbe oder mehrerer Farbtöne erzeugen eine lichtgesättigte Atmosphäre.

Das Licht drängt sich im Entstehen von Farbformen – und irisierend farbigen Tönungen – gleichrangig in den Vordergrund, erzeugt einen Schwingungsraum. Viele Motive tauchen aus einer schwarzen oder extrem dunkelblauen Acrylschicht oder Wachskreide auf und pointieren so den Grund als einen vergleichsweise magischen Nachtraum. Geometrische Flächenbeziehungen von Motivrepetitionen werden abgemildert, leuchten optisch freischwebend in der Räumlichkeit. Wirbel und rotierende Strahlen von Blüten und Fruchtständen entfalten und verdichten sich in einem erotisch lebendigen Feuerwerk.

Neben einer Reihe neuer, großformatiger Acrylschnitt-Bilder zeigt Birgit Brandis auch Malereien, basierend auf Farbschüttungen. Deren Verlauf steuert sie, indem sie die MDF-Platte mit der noch zähflüssigen Acrylfarbe vorsichtig kippt. Einige kleinere Skulpturen fügen Mixed Media Atelierobjekte in den Pflanzenfundus ein, mit einer Ausnahme. Ein sitzend etwa hüfthoher, farbscheckiger Gnom Akkumulationist aus den Positiv-Resten der Acrylhöhlungen entstanden. Ausgeschnitten in vierjähriger Arbeit erinnern diese, nun zu Klumpen modelliert und übereinandergetürmt, figural an diese Herkunft aus der Mitarbeit am Negativ.

In Ahrensburg zeigt Brandis außerdem ihr Herbarium, eine Serie kleinformatiger Wachsauskratzungen auf Papier, kürzlich auch Teil ihrer Ausstellung Schlundschuppen und Honiglippen im Westwendischen Kunstverein. Namen von Pflanzen und Blumen, und so auch in Herbarien, stammen häufig aus der Phantasie der Umgangssprache. Einige von Birgit Brandis’ Titeln fügen poetische Anspielungen hinzu – Bartnelke bei Nacht und Schachbrettblume bei Nacht, Arty Schogge, Distel geröntgt und Distel im Gegenlicht, Distel denkend oder Distel, Kopf in den Sternen. Andere hatten schon poetisierende Namen wie Herkuleskeule, Frauenschuh, oder lateinische wie Hibiskus, andere haben längst einen romantischen Kultstatus wie die Blaue Blume.

Der Hamburger Künstlerin geht es weder um Illustration noch um Abstraktion. Vielmehr bildet die sexuell erotische Dynamik den Ausgangspunkt, die als energetisches Zentrum in Farbe und Formung von Pflanzen und Blumen am Werk ist. Darauf spielt auch ihr Motto für das Herbarium an. Sonor philosophisch fängt es an mit „Vom Wesen …“, um satyrspielartig zu enden mit „… der Lunte“. Konspirativ löst diese verborgene oder imaginäre Lunte in der eigenen Phantasie ein Feuerwerk von Herbarien-Assoziationen aus, vom Pflanzenstiel und Blättern bis zur Blüte. Letztere explodiert jedoch nicht technisch-mechanisch. Ihr erregt erregender Farb- und Formenzauber im Licht möge, von Duftrummel unterstützt, eine Begattungsbestäubung mithilfe von Bienen, Hummeln und anderen Insekten auslösen.

Diese Triebdynamik paraphrasiert Brandis in analog organischen, geometrisch gewunden verschlungenen oder auch rotierenden Formen, welche die erotische Faszination, ausgelöst vom Erfindungsreichtum der Pflanzenwelt, weitertragen. Brandis’ Blumen und Gewächse sind inspiriert von auffälligen Mustern und eigenwilligen Bewegungsverläufen – allesamt gesteuert von pflanzlichen Energien des expansiven Aufblühens, des Anpassens an den verfügbaren Platz –, bei denen wir nicht wissen, ob und welche Wiederholungen es für die – selbe? – Blüte einer Pflanze gibt. Der schwarze Grund, aus dem manche Blumen wie ein flüchtiges nächtliches Abenteuer aufleuchten, mag diese Vergänglichkeit signalisieren. Die Ausarbeitung der dynamisch-optischen Gewebe im Handhaben des Wachsauskratzens erzeugt eine spezifische Leuchtkraft und Räumlichkeit, auch Dämmerzustände des Lichts, als wäre ihm der Verfall schon eingeschrieben. Dieser Eindruck entsteht besonders dort, wo feinste Kammlinien die Pflanzenoberfläche überziehen. Ohne Anspielungen auf bekannte Vergänglichkeitsmuster verweist diese Situation auf die zeitliche Fragilität alles Lebendigen.

Ob man bei Pflanzen von „Triebdynamik“ sprechen kann – Eros ein Sehnen ist und Sexualität der Akt –, ist eine offene Frage. Pflanzen mögen uns ferner sein als Bienen, Hummeln, Libellen und anderes flugtaugliches Getier. Aber etwas machen uns Insekten doch vor. Sie helfen Pflanzen, sich fortzupflanzen und zu überleben. So kann man die Kernfrage zuspitzen: Gibt es, sobald es Leben gibt, auch Genießen? Lust und Unlust als Überlebensenergie? Eine Bejahungsvermutung würde zumindest manch eine selbstgewählt transzendentale Einsamkeit wegpusten.

Birgit Brandis’ Kunst jedenfalls gelingt es, einen sicher überraschend neuen Zugang zur Universalität der erotischen Dimension alles Lebens und Erlebens zu eröffnen. – Eros, c’est la vie, „Eros, so ist das Leben“, so die provokante Parole von Duchamp, hat keinerlei Veranlassung, irgendeine belebte Natur zu vernachlässigen.

Ursula Panhans-Bühler

Hamburg, Juli 2022

 

 

 

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