Die Seismographin

Die Bilderfinderin
(oder)
Von der Lust am Bilder erfinden
(oder)
Die Seismographin

von Dirk Dobke

Birgit Brandis ist Malerin. Malen bedeutet für sie auch immer gießen, schütten, spachteln, schichten, auf- und unterdrucken, kleben, schnitzen, schneiden und kerben – und die Liste ihrer Tätigkeiten des Bildermachens ließe sich bestimmt noch verlängern. Sie begreift die Bildentstehung als physische Herausforderung. Ihre oft großformatigen Farbkompositionen haben eine ganz besondere sinnliche Präsenz und Unmittelbarkeit. Aber was spontan, gestisch und leicht wirkt, wird zumeist mit vollem Körpereinsatz erarbeitet. Birgit Brandis´ Bildwelt ist ungegenständlich und nie offensichtlich erzählerisch. Die Künstlerin fordert den Betrachter auf, ihr in der Bildfindung zu folgen, die darin angelegten Strukturen und Verweise zu lesen, zu assoziieren und Gezeigtes nachzuvollziehen. Ihre Bilder wirken nicht nur, sie thematisieren immer auch die eigene Entstehung. Die Künstlerin geht dabei weit über über die rein malerische Komposition hinaus. Für eine Malerin höchst ungewöhnlich, bearbeitet sie ihr bildnerisches Material fast wie eine Bildhauerin. Wie diese sukzessive Holzschichten entfernt, um zur Form zu gelangen, trägt Birgit Brandis Farbschichten gezielt wieder ab, um zur angestrebten Komposition, zum gewünschten Bild zu kommen. Farbe als Material, das Bild als Relief. Aber: Das ist alles Malerei! betont sie und erfindet ständig neue Techniken für ihre farbgewaltigen Bildwelten. Das Bonmot, wonach ein Künstler nicht nach Motiven suchen, sondern sie finden sollte, ist ihr ein selbstverständliches Credo. So steht der oft kräftezehrende Entstehungsprozess im Widerspruch zur Leichtigkeit und zum Farbfeuerwerk vieler Bilder. Mit scharfer Klinge schneidet und sticht sie sich durch die farbigen Bildschichten hindurch bis zum hölzernen Malgrund, also zum Anfang des Bildes, oder kerbt gar in diesen hinein. Was einmal als unterste Schicht unter vielen anderen angelegt war, drängt so schließlich wieder leuchtend nach oben. Und was schon Oberfläche schien, wird von ihr gezielt mit einem Schnitzmesser zu einem feinem Geäst oder Liniengewirr aufgelöst. Ihre Bilder entstehen durch das sich Durch- und Abarbeiten am bildnerischen Material. Damit thematisiert sie immer auch explizit die Materialität der Farbe und sogar die des Bildträgers.

Auch wenn man meint, dass zuweilen Abstraktionen von Figürlichem aufscheinen, findet man in ihren Bildern keine konkrete Gegenständlichkeit. Es sind auch nicht vordergründig konzeptionelle, formalästhetische Fragen, die sie in ihren Bildern stellt. Ihre Ideenwelt und ihre Bildsprache sind überaus reich und vielfältig und sie geht unorthodox und selbstbewusst damit um. So finden sich Anklänge an Informel, Op-Art oder Graffiti gleichberechtigt neben Verweisen auf Minimal Art und Farbfeldmalerei, ergänzt um Gezeichnetes und Gedrucktes. Ihre Bildkompositionen sind starker persönlicher Ausdruck, geheimnisvoll und nicht wirklich dechiffrierbar, aber dabei voller Emotionen und Leidenschaft. Assoziationen, die sich dem Betrachter aufdrängen, sind ihr stets willkommen. Ihr einstiger Lehrer Gustav Kluge schreibt dazu: Vielleicht ist es diese nie ganz zu Ende entschiedene Balance von Bedeuten und Nicht-Bedeuten in den einzelnen Arbeiten, die zur Spannkraft ihrer Bilder beiträgt.(Portfolio No.1, griffelkunst, Hamburg, 2011)

Besonders spannungsreich sind ihre Interpretationen des Drippings, das einst Jackson Pollock als radikalen, fast ungerichteten Gestus in der Malerei definierte. Wie dieser verspritzt und verwirbelt sie zunächst die flüssige Farbe – ungemischt und direkt aus der Flasche – auf dem hölzernen Bildträger. Dann vertieft sie, mittels eines feinen Stecheisens, mit großer Präzision den Bildgrund um die filigranen Farbspritzer herum, bis diese als erhabenes Farbrelief auf dem durchfurchten Holzgrund aufzuliegen scheinen (Abb 27). Birgit Brandis setzt mit der sorgfältigen, kontemplativen Weiterbearbeitung dem freien, spontanen Gestus die Zeit entgegen. Millimeter um Millimeter trägt sie den Hintergrund ab und legt so das zunächst eruptiv aufgebrachte Farbgeflecht plastisch frei. In der Bildwirkung schließlich ringen beide Schichten miteinander.

Vor allem das Diptychon, also das zweiteilige Tafelbild, hat die Künstlerin zu einem typischen Instrument ihrer Malerei entwickelt, indem sie zwei horizontal gelagerte Bilder übereinander zu einem Ganzen montiert. Motivisch können sich die beiden Tafeln formal entsprechen, einander ergänzen oder sich kompositorisch spiegeln. Es sind jedoch ausdrücklich stets Bildpaarungen aus zwei starken Einzelelementen, welche die Künstlerin festlegt und die erst in ihrem Zusammenspiel ein Bild ergeben. Mit diesen ungewöhnlichen konfrontativen Bildpaaren fordert sie den Betrachter auf, sich mit der bildimmanenten Polarität auseinanderzusetzen und die daraus resultierende Spannung auszuhalten.

Das Schichten und anschließende Herausschälen als eigentlich skulpturale Techniken sind zwei wesentliche Grundzüge ihrer Malerei. Zum ersten Mal präsentiert Birgit Brandis in dieser Ausstellung mit der Säule Malefizauch eine großformatige vollplastische Arbeit. Die Säule drängt sich mächtig zwischen die vorhandenen Holzsäulen des Ausstellungssaals und durchbricht deren festgefügtes, gleichmäßiges Raster. Technisch gesehen ist Malefizein Schichtenturm: Additiv hat die Künstlerin unzählige quadratische Farbschichten so entgegen dem Uhrzeigersinn leicht versetzt übereinander gestapelt, dass sich eine raumhohe gedrehte Spindel ergibt (Abb 74, 75). Die optische Massivität des Turms steht dabei in einem gewissen Widerspruch zur materiellen Fragilität der geschichteten Kartons, und es scheint, als wenn erst die Raumdecke die sich ins Unendliche schraubende Säule (Brancusi !) in ihrem Drang zu stoppen vermag…

Birgit Brandis künstlerische Arbeit kündet von einer selbstverständlichen Multimedialität. Groß ist ihre Bandbreite an Techniken und Gattungen, rätselhaft anspielungsreich ist ihr Bildrepertoire und farbgewaltig überbordend sind ihre Bildwelten. Neben ihren großformatigen Malereien und bildhaften Hochdrucken arbeitet sie seit 2014 an der Serie der relativ kleinformatigen Wachskratzereien, wie sie diese Werkgruppe nennt, von der einige Exponate auch in der aktuellen Ausstellung zu sehen sind. Diese Bilder komponiert sie, indem sie mittels einer Rasierklinge zuvor aufgebrachte hauchdünne farbige Schichten Ölkreide behutsam wieder freilegt (Abb 14).

Räumliche Interventionen nimmt sie mit ihren Bodenschüttungen vor. Dazu lässt sie auf dem Ausstellungsboden gezielt Farblachen ineinander fließen, bis diese zu einem großflächigen Farbsee erstarren (Abb 48). Außerdem wächst beständig ihr Opus an fotografischen Arbeiten, in denen die Künstlerin Alltägliches graphisch-abstrakt zeigt. Ihre Fotos erscheinen als Einzelwerke und als opulente, fast objekthaft wirkende Künstlerbücher.

Birgit Brandis arbeitet ausdrücklich nicht seriell, aber eine deutliche Handschrift durchzieht alle Gattungen ihres Werkes. Ihre Bilder haben eine expressive Wucht und sind zugleich höchst seismographisch. Ihre Ikonographie ist offen und rein subjektiv. Auch wenn jedes Werk ein Ausdruck ihrer Ideenwelt ist, lassen die Motive dem Betrachter Freiräume – und jede Arbeit steht immer auch für ihre eigene Genesis.


The inventor of images
(or)
A passion for invention
(or)
The seismograph

Birgit Brandis is a painter. Painting for her also means pouring, casting, layering, scraping, filling, printing, pasting, carving, cutting and indenting – and the list of her interventions to create a work may be extended. For her, generating a painting is a physical challenge. Her usually large scaled colour compositions possess a very particular sensual presence and immediacy. But what appears spontaneous, gestural and easy is usually achieved through capacious physical dedication. Birgit Brandis´ imagery is non-representational and never obviously narrative. The artist prompts the audience to follow her in finding an image, reading its structures and references, to associate and to comprehend the visual. Her paintings do not only affect the audience, their genesis is their topic. With that the artist surpasses the purely painterly composition. In most unusual ways for a painter Brandis works the surfaces almost like a sculptor. Whereas in sculpture, form is freed through carving, Brandis removes layers of colour to expose surfaces, come to the intended composition, the desired image. Colour as material, the image as relief. But: It is all painting, Brandis insists and keeps inventing new techniques for her powerfully coloured images. The bon mot about the artist finding rather than searching for motifs, is self-evident to her. The ease and fireworks of colours in her paintings betray their exhausting genesis. A sharp blade is used to cut right through layers of colour down to the wooden surface, or even carve into it, the painting´s origin. What was ground under many more layers finally pushes through again to the surface to shine. And what appeared to be surface is modified by the blade into a fragile web of branches, an organic tangle of lines. Brandis´ paintings are the result of a forceful confrontation with the material. The physical consistency of colour as well as of the base are her topic of research.
Although abstractions sometimes seem to shine through, there is no figurative intent, no concrete outline. This art is not about conceptual, aesthetic reflection. The accompanying world of ideas and imagery is extremely rich, many-folded and the artist handles it with vigour and confidence. There are resonances of Informel, Op-Art or Graffiti pari passu with references to Minimal Art and colour blocking, complemented by drawn and printed elements. Her compositions transport a strong personal expression, mysterious and not entirely readable yet satiated with emotion and passion. She welcomes the connotations that the paintings insinuate. Her former professor Gustav Kluge wrote:
Maybe it is this never completely decided balance between meaning and non meaning in the individual works which give them their gripping power.(Portfolio No.1, griffelkunst, Hamburg, 2011)

Particularly intense are her interpretations of dripping, the maniera Jackson Pollock defined as a radical, almost aimless gesture in painting. Like him, Brandis initially splatters and swirls liquid colour – pure and directly from the bottle – on a wooden surface. With a sharp blade she then carves very precisely around each drop and splatter until they appear as high relief – emerging from the roughened, uneven wooden surface. Birgit Brandis´ careful and contemplative treatment contradicts the free spontaneous initial gesture with time. Millimeter by millimeter she strips the background and amplifies the eruption of colour previously spread. The final impression is of both levels wrestling with each other.
Particularly the diptych, a panel painting of two parts, has become a typical instrument in Brandis
´ painting. Two horizontal works are arranged one above the other to form a whole. The motifs either complement, enhance or mirror one another. In each case, however, the artist composes a coupled entity from two strong individual elements. These unexpectedly confrontational pairings invite the audience to reflect upon their inherent polarity and endure the resulting tension.

The layering and then carving as genuine sculptor´s techniques are two major characteristics of Brandis´ painting. For the first time, Birgit Brandis presents a large scale, purely sculptural work here: a column entitled Malefiz. It pushes heftily between the substantial wooden columns of the exhibition space and breaks their solid regular order. Technically, Malefiz is a tower of layers: numerous layers of colour in square form have been placed on top of one another in slightly varying angle and counter clockwise in order to create a spindle as high as the ceiling. The material fragility of the mounted pieces of carton seems to contradict their optic mass and it appears as if only the ceiling can stop this endless column (Brancusi!).

The works of Birgit Brandis appear in a variety of media which she employs very naturally. There is an enormous range of techniques and genres, her repertoire of motifs is full of mysterious references, the images enormously colourful and expansive. Since 2014, besides the paintings in large format and image-intense high reliefs, she has been working on a series of smaller scale Wachskratzereien (wax scratchings), some of which are seen in the present exhibition. These works are composed by carefully removing thin layers of oil pastel with a razorblade.

Spatial interventions she calls Bodenschüttungen (pourings on the ground). These entail various colours being poured on the museum floor where they mingle and ultimately harden into pools of colour.
Additionally, the body of her photographic work is growing. It shows scenes and objects from everyday life in a graphically abstract way. Brandis
´ photos appear as individual works, opulent and like objects themselves, almost like artist´s books.

Birgit Brandis decidedly works not in series, yet a distinct signature connects the wide variety of genres in her work. Her paintings show an expressive power and yet a seismographic sensitivity. Her iconography is open and purely subjective. Even with every work being an expression of her thought process, the motifs offer themselves openly to the viewer´s gaze – and each work also represents its own genesis.